Wie die Pandemie die Psyche belastet
SASEL Furcht – ein weit verbreitetes Gefühl in diesen Zeiten? Oder nur eine subjektive Wahrnehmung? Man kann derzeit vor vielem Angst haben: vor rapide steigenden Infizierten-Zahlen, der Möglichkeit, sich selbst zu infizieren, davor die Liebsten anzustecken, aber auch vor einer Spaltung der Gesellschaft, davor „auf der falschen Seite zu stehen“, den Arbeitsplatz zu verlieren oder bald die Miete nicht mehr zahlen zu können. Wie wirkt sich die Pandemie auf die Gefühlswelt aus? Dieser Frage geht das Heimat-Echo mit Nadia Beyer (50), Psychotherapeutin aus Bergstedt, nach. Sie hat eine eigene Praxis als Systemische Therapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie am Berner Weg in Sasel.
Frau Beyer, stellen Sie seit dem Beginn der Pandemie in Ihrer Praxis eine Zunahme der Patientenzahl fest?
Nadia Beyer: Die Anfragen für eine Psychotherapie nahmen schon während des ersten Lockdowns deutlich zu. In dieser ersten Phase bot ich ausschließlich Videositzungen an. Es wurde sehr schnell deutlich, dass das Bedürfnis der Menschen nach persönlichem Kontakt sehr hoch war. Seit Mai empfange ich meine Klienten wieder in meiner Praxis, natürlich unter Anwendung eines strengen Hygienekonzeptes. Seitdem sind die Anfragen nochmal deutlich gestiegen. Mich erreichen fast täglich Neuanfragen von Menschen, die sich außerordentlich erschöpft und belastet fühlen.
Woher kommen diese Symptome?
Viele Menschen fühlen sich massiv gestresst und überfordert. Wenn auf der einen Seite der Ausgleich durch bestimmte Aktivitäten, die Freude bereiten – wie beispielsweise das Treffen mit Freunden, Essengehen, Sport, Reisen oder Kultur – durch Corona wegfallen und gleichzeitig die Belastung steigt, zum Beispiel durch zusätzliche Kinderbetreuung, Homeoffice, rigides Einhalten von Vorschriften und der ständigen Sorge vor einer potentiellen Infektion oder Arbeitsplatzverlust, steigt der chronische Stress. Akuter Stress kann gut adaptiert werden, lang anhaltender hingegen führt bei einigen Menschen zu psychischen Störungen, wie der einer Depression.
Glücklicherweise trifft das nicht jeden, warum?
Eine Theorie bei der Entstehung einer Depression ist die Gen-Umwelt-Interaktion. Dabei wird von einem Zusammenspiel einer genetischen Veranlagung und widrigen Umwelteinflüssen ausgegangen. Das erklärt, warum einige Menschen anfälliger sind und erkranken und andere nicht, obwohl die Situation die gleiche ist.
Mit welchen Themen kommen Erwachsene zu Ihnen?
Da erlebe ich Existenzängste und auch die Sorge vor den wirtschaftlichen Folgen dieser Krise. Man beschäftigt sich mit Fragen, wie: Wer soll das alles bezahlen, wann und wie erhalten wir dafür die Quittung, was passiert mit den Renten? Auch das Homeoffice hat Folgen: Wenn ein Paar zu Hause in Videokonferenzen sitzt, man gegenseitig Rücksicht nehmen muss und dann auch noch die Kinder im Homeschooling betreut werden sollen, kann das früher oder später zu Beziehungsstress, zur absoluten Überforderung und zur Krise führen.
Sie arbeiten auch mit Jugendlichen. Wie steht es um sie?
Auffallend ist die Zunahme von jungen Menschen, die sich in einer depressiven Episode befinden. Sie werden komplett ausgebremst, können ihr Leben nicht so frei gestalten, wie sie es erwartet und erhofft haben. Gerade sie möchten neue soziale Kontakte knüpfen, sich neu orientieren und ausprobieren. Ich erlebe viel Unsicherheit bei den Jugendlichen, was die Zukunft betrifft. Sie werden geplagt von Sorgen, Ängsten und Nöten. Dabei fühlen sich viele schlecht, weil es in der Pandemie Menschen gibt, denen es noch deutlich schlechter geht. Ich finde es legitim, wenn die eigene kleine Trauer über den individuellen Verlust – wie auch immer er aussieht – gelebt werden darf.
Einige beobachten eine Tendenz, dass Jugendliche weniger Rücksicht auf die ältere Generation nehmen. Als mögliche Begründung wird der Konflikt in der Klimakrise herangezogen, die jungen Leute seien verärgert über Eltern und Großeltern. Sehen Sie das auch so?
Ich sage nicht, dass die Jugendlichen sich unmoralisch verhalten und bereit sind, ältere Menschen bewusst zu gefährden. Was ich aber deutlich feststelle, ist ein gewisser Unmut. Ich höre häufiger den Vorwurf, dass Politiker die Belange von älteren Menschen über die von Jugendlichen stellen. Es werde lieber in steigende Renten als in die Nachhaltigkeit investiert. Ich nehme einen Generationenkonflikt wahr, der zum einen aus dem Unverständnis der Gesellschaft über den teilweisen lockeren Umgang der Jugendlichen mit den Kontaktbeschränkungen entsteht. Zum anderen stellen sich einige Jugendliche die Frage, warum sie sich jetzt – verbunden mit ausgeprägten eigenen massiven Einschränkungen – derartig langfristig solidarisch verhalten sollen, um vor allem die älteren Menschen zu schützen. Die ja in ihren Augen nur wenig dazu beigetragen haben, ihnen eine gesunde Umwelt zu hinterlassen. Es ist glücklicherweise eher die Ausnahme, dass junge Menschen schwer an Corona erkranken. Und dennoch werden sie in ihrem Alltag so massiv eingeschränkt, um gefährdete ältere Menschen zu schützen.
Gibt es irgendeine positive Tendenz, die Sie feststellen? Und was raten Sie Eltern?
Positiv könnte sein, dass die junge Generation irgendwann feststellt, dass Krisen gemeinsam und mit der notwendigen Solidarität gemeistert werden können. Eltern sollten Kindern das Gefühl vermitteln, dass wir diese Krise trotz aller Widrigkeiten meistern werden. Sie sollten nicht zu pessimistisch sein, das Schöne im Kleinen sehen, Hoffnung geben und Geborgenheit, offen sein für Gedanken, Sorgen und Nöte. Dadurch entsteht bei den Kindern Resilienz, eine psychische Widerstandsfähigkeit, die dazu beiträgt, dass auch schwierige Phasen im Leben ohne große, anhaltende Beeinträchtigungen überstanden werden können. Ich wünsche mir, dass es uns gelingt unsere Menschlichkeit zu bewahren; dass wir diese Krise meistern und gestärkt für zukünftige Geschehnisse daraus hervorgehen.
Das Heimat-Echo bedankt sich bei Nadia Beyer für das Gespräch.
von Anja Krenz
Last modified: 17. Dezember 2020